Fachgespräch mit Prof. Dr. Veronika Grimm

Unsere Expertin diesmal: Prof. Dr. Veronika Grimm (53), renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin an der Technischen Universität Nürnberg und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Prof. Dr. Veronika Grimm … gehört seit 2020 dem Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an. Die promovierte Volkswirtin ist Professorin an der Technischen Universität Nürnberg und leitet dort das Energy Systems and Market Design Lab. Sie berät verschiedene Bundesministerien und die EU-Kommission zu Energie- und Klimapolitik sowie allgemeinen wirtschaftspolitischen Fragen. In der aktuellen Debatte um Wirtschafts- und Energiepolitik ist sie eine der gefragtesten Expertinnen. Ihre klaren Analysen und pragmatischen Lösungsvorschläge haben sie zu einer wichtigen Stimme in der wirtschaftspolitischen Diskussion gemacht.

Standpunkte: Frau Prof. Grimm, die neue schwarzrote Regierung startet mit einem riesigen Schuldenberg, der der Verteidigungsfähigkeit und der Infrastruktur dienen soll. Anders als andere Wirtschaftswissenschaftler haben Sie das kritisiert, warum?

Grimm: Ich halte das Vorgehen für überstürzt und nicht zielführend. Richtig und wichtig ist die Schaffung von Spielräumen für eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Aber man ist über das Ziel hinausgeschossen. Mit weiteren Maßnahmen – dem Sondervermögen sowie der Lockerung der Schuldenbremse für die Länder – sind immense Verschuldungsmöglichkeiten eröffnet worden, noch vor den Koalitionsverhandlungen. Wichtige Strukturreformen sind jetzt nicht mehr auf der Agenda, wo Geld scheinbar im Überfluss vorhanden ist. Zudem wird Deutschland nun voraussichtlich auch die europäischen Fiskalregeln nicht einhalten können, und die Zinsen für Staatsanleihen sind in der Eurozone gestiegen. Wir bringen dadurch die hoch verschuldeten Nachbarn Italien, Frankreich und Spanien in die Bredouille und erhöhen das Risiko einer Staatsschuldenkrise in der Eurozone.

Standpunkte: Mit welchen Ratschlägen würden Sie die Koalition auf den richtigen wirtschaftspolitischen Kurs bringen?

Grimm: Die aktuelle Lage ist herausfordernd. Ich bin nicht einmal sicher, ob die Unionsparteien und die SPD einen Konsens in der Beurteilung der Krise erzielt haben. Seit 2019 gab es kein Wachstum, die Investitionen gehen zurück, die Auslastung der Industrie ist auf einem historischen Tief. Länder wie China machen uns zunehmend Konkurrenz, selbst in Bereichen, in denen wir lange Exportweltmeister waren. Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist bedroht – durch hohe Energiekosten, eine sinkende Arbeitsproduktivität, überbordende Bürokratie und ein im internationalen Vergleich schlechtes steuerliches Umfeld. Wir brauchen jetzt eine Wachstumsagenda, müssen die Energie- und Klimapolitik neu ausrichten und dabei auf Kosteneffizienz achten sowie unsere Verteidigungsfähigkeit schnellstmöglich stärken. Diese Handlungsfelder hängen eng zusammen. Es gibt Spannungsfelder, aber auch Synergien.

Standpunkte: Fangen wir mit dem Wachstum an. Welche konkreten Schritte empfehlen Sie der gar nicht mehr so großen Koalition, um die Wirtschaft und speziell den industriellen Mittelstand zu entlasten?

Grimm: Erst mal gilt: Der Standort Deutschland hat ohne Frage weiter große Stärken. Rechtssicherheit, Innovationskraft, hoch qualifizierte Fachkräfte. Trotzdem ist klar: Wir brauchen einen Strukturwandel, der Neues hervorbringt – uns also wieder vor die Welle bringt. Die Rahmenbedingungen müssen das Land für Firmen in Wachstumsbranchen attraktiv machen. Wichtigster Hebel ist eine Reform der Unternehmenssteuern. Im Vergleich zu Ländern wie den USA, Frankreich oder Großbritannien sind wir mit einer Belastung von rund 30 Prozent nicht mehr attraktiv. 25 Prozent wären ein guter erster Schritt. Zugleich müssen wir bei den Arbeitskosten ansetzen. Einkommensteuern und Lohnnebenkosten müssen runter und die Mobilität am Arbeitsmarkt sollte steigen. Auch unser Sozialsystem setzt teils die falschen Anreize. Bei Bürgergeld und Rente braucht es Anpassungen, die das Arbeiten attraktiver machen.

Standpunkte: Ist denn die deutsche Wirtschaft überhaupt noch zu Veränderung fähig? Sie haben mal von einer „Trägheit“ gesprochen, die auch mit einer zu großen Staatsnähe zusammenhinge.

„Wir brauchen einen Strukturwandel, der Neues hervorbringt.“

– Prof. Dr. Veronika Grimm

Grimm: Es ist ein zweischneidiges Schwert. Früher war das kein Problem, weil dieses „Deutschland AG“-Modell mit seinen Weltmarktführern international wettbewerbsfähig war und auch den Mittelstand – oft als Zulieferer – mitgezogen hat. Jetzt wird es aber zum Problem. Die großen, staatsnah agierenden Unternehmen können aus der Nähe zum Staat eine gewisse Bequemlichkeit ziehen, nach dem Motto: Der Staat wird uns schon helfen. Diese Haltung erschwert den vielerorts dringend nötigen Wandel. Auf der anderen Seite stehen viele Mittelständler, die sich zu Recht darüber ärgern, dass ihre Steuergelder für teure Subventionen verwendet werden, statt dass die Rahmenbedingungen für alle verbessert werden. Zu Recht geht dort die Sorge um, dass Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren droht.

Standpunkte: Bleiben wir bei der Staatsnähe – wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die milliardenschwere Stärkung der Bundeswehr?

Grimm: Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit dringend und schnellstmöglich verbessern, keine Frage. Die aktuelle geopolitische Lage lässt uns keine Wahl. Aber man darf die Dimensionen nicht unterschätzen. Um den Verteidigungshaushalt nachhaltig anzupassen, müssen wir an anderer Stelle Einschnitte vornehmen. Die Finanzierung über Schulden belastet zukünftige Generationen und gefährdet auf Dauer die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen. Bei den aktuellen Wachstumsaussichten können wir etwa zehn bis 15 Milliarden mehr pro Jahr aufnehmen, ohne dass der Schuldenstand ansteigt. Damit kommen wir nicht weit. Also braucht es Umschichtungen im Haushalt. Beim Bürgergeld ließen sich durch bessere Anreize fünf bis zehn Milliarden per anno einsparen. Auch die Rente ab 63 gehört auf den Prüfstand. Im Wohnungsbau und beim Klimaschutz sollten wir auf mehr Markt und weniger Staat setzen. Wenn man die Politik neu ausrichtet und auf Kosteneffizienz achtet, sind jährliche Einsparungen im deutlich zweistelligen Milliardenbereich drin.

Standpunkte: Kommen wir zum Thema Energie. Die Kosten sind für viele Unternehmen erdrückend. Was muss sich ändern, damit Deutschland wieder wettbewerbsfähige Strompreise bekommt?

Grimm: Es gibt vier zentrale Stellschrauben. Erstens: Wir brauchen Strompreiszonen. Die sorgen für effizientere Preissignale, die die tatsächlichen Knappheiten widerspiegeln. So wird an den richtigen Standorten investiert und auch der Kraftwerkseinsatz erfolgt effizient. Mit einem einheitlichen Preis für ganz Deutschland funktioniert das nicht. Zweitens basieren die Netzausbaupläne auf unrealistisch hohen Prognosen für den Stromverbrauch. Eine Anpassung des Netzausbaubedarfs und die Priorisierung von Leitungen, die wesentliche Engpässe beseitigen, würde Kosten sparen. Drittens: Erdverkabelung ist teuer. Wo immer möglich, sollte man auf günstigere Freileitungen umsteigen. Und viertens braucht es einen pragmatischeren Zubau von Gaskraftwerken. Statt wasserstofffähige Kraftwerke sollten normale Gaskraftwerke zugebaut werden, die später immer noch umgerüstet werden können. Das ist billiger und geht schneller.

Standpunkte: Damit sind wir beim Thema Wasserstoff – ein Lieblingskind der Politik. Zu Recht?

Grimm: Ohne Frage werden wir langfristig viel Wasserstoff und darauf aufbauende klimafreundliche Energieträger brauchen, um 2045 oder 2050 klimaneutral zu werden. Vor allem für Industrien wie Chemie, Stahl oder Zement gibt es oft keine Alternative. Nur so lässt sich eine Verlagerung der Produktion verhindern, die am Ende dem Klima gar nicht hilft, weil die Emissionen dann anderswo anfallen. Zugleich müssen wir aber aufpassen, das Thema nicht mit überzogenen Ansprüchen zu überfrachten. Es bringt nichts, auf den großflächigen Einsatz von grünem Wasserstoff zu warten. Den werden wir auf absehbare Zeit weder in ausreichenden Mengen noch zu erschwinglichen Preisen bekommen können. Es gilt, pragmatisch und schnell blauen Wasserstoff zu importieren. Die Politik muss dafür die Voraussetzungen schaffen, indem sie langfristige Lieferverträge und einen Ausgleich der Differenzkosten garantiert. Das aktuelle Beispiel des Scheiterns eines Imports von blauem Wasserstoff aus Norwegen zeigt, woran es noch hakt.

Standpunkte: Was muss die neue Regierung als Erstes angehen?

Grimm: Wir brauchen eine klare Wachstumsagenda, die auf Strukturreformen setzt. Wenn in der Koalition weiter nur Streit herrscht, ohne dass Lösungen geliefert werden, dann wenden sich immer mehr Wähler ab. Es reicht daher nicht, nur an der „Brandmauer“ gegen politische Extreme festzuhalten. Die Menschen spüren die Orientierungslosigkeit diesseits der Brandmauer. Der Verfall unserer Wirtschaftskraft gefährdet auch unsere weltpolitische Rolle – das ist eine existenzielle Gefahr für Deutschland. Die nächsten vier Jahre werden entscheidend sein.

Standpunkte: In der Tat warnen viele Beobachter, dass 2029 die Versuchung noch viel größer sein könnte, bei den Bundestagswahlen auf scheinbar einfache populistische Parolen zu setzen. Teilen Sie diese Sorge?

Grimm: Ja. Wenn weite Teile der Bevölkerung den Eindruck gewinnen, dass die etablierten Parteien keine überzeugenden Antworten geben, werden sie sich Alternativen suchen. Ohne strukturelle Reformen, die Investitionen auslösen, wird das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft nicht gestärkt. Die immensen Mittel für zusätzliche Infrastruktur und Rüstung werden dann zwar vorübergehendes Wachstum bringen, weil die Unterauslastung der Unternehmen abnimmt. Ist die Volkswirtschaft aber in zwei bis drei Jahren dann voll ausgelastet, trifft die zusätzliche Nachfrage auf Kapazitätsengpässe und erhöht den Preisdruck, führt also zu Inflation. Wenn dies genau vor den kommenden Wahlen passiert, dürften die extremen Parteien profitieren. Es braucht Ehrlichkeit, es braucht Führung, und es braucht vor allem eine glaubwürdige Strategie für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland, die den Menschen auch kommuniziert wird. Sonst drohen wir ökonomisch und politisch ins Abseits zu geraten.

Standpunkte: Vielen Dank für das Gespräch.

Was macht ein Sachverständigenrat?

Unter den mehr als zwei Dutzend Beratungsgremien der Bundesregierung ist der „Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ wohl das wichtigste. Die sogenannten fünf Wirtschaftsweisen traten nach Schaffung einer entsprechenden Gesetzesgrundlage durch den Bundestag erstmals 1963 zusammen. Alljährlich im Herbst legt der Rat der Bundesregierung ein Gutachten zur wirtschaftlichen Lage vor, dessen Eckpunkte das Preisniveau, den Beschäftigungsstand, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und das Wirtschaftswachstum darstellen. Neben Prof. Dr. Veronika Grimm gehören dem Rat derzeit die Wirtschaftswissenschaftler Ulrike Malmendier, Monika Schnitzer (Vorsitzende), Achim Truger und Martin Werding an.

Fotos: Laurin Schmid; Adobe Stock (Olga Rai), Silas Stein